Kennt Ihr das, Ihr habt irgendwo im Schrank noch ein Porzellan-Teil, was die besten Zeiten hinter sich hat. Inzwischen ist etwas abgebrochen oder Eure Lieblingstasse, vielleicht noch von Oma, ist gleich in mehrere Teile zerbrochen. Die Hemmschwelle, die Überbleibsel wegzuwerfen, ist groß, aber eine Tasse, Vase, eine Kanne, einen Teller mit Riss oder Schlimmerem noch einmal auf den Tisch stellen, wenn Besuch da ist … niemals. Passt irgendwie nicht zu unserer Gesellschaft. Alles muss makellos sein. Und so holen wir unser angeschlagenes Lieblingsstück nur hervor, wenn wir alleine frühstücken oder Kaffee trinken. Was sollten denn sonst die Leute von uns denken …. .
Vor einigen Monaten schaute ich TERRA X, Asien. Und es gab einen kleinen Schwenk nach Japan. Gezeigt wurde KINTSUGI. Und ich war völlig fasziniert. Kintsugi ist eine japanische Reparaturmethode für Keramik und Porzellan, bei der die Reparaturstelle mit speziellem Lack geklebt und mit Goldpulver betont wird. Kintsugi ist seit 7.000 Jahren Tradition in Japan.
Ich habe diverse Übersetzungen für Kintsugi gefunden:
Gold-Flicken
Goldverbindung
Goldreparatur
Goldenes Zusammensetzen
Kunstvolles Zusammenfügen.
KIN heißt übrigens Gold.
Bei dieser Reparaturtechnik geht es darum, aus etwas Zerbrochenem etwas noch viel Schöneres hervorgehen zu lassen. Es geht also nicht darum, etwas Kaputtes wieder ‚funktionsfähig‘ zu machen, weil man sich kein neues Stück leisten kann, nein, es geht darum, daran zu glauben, dass aus etwas Kaputtem etwas noch viel Schöneres werden kann, als das Original schon war. Der Makel, die Abwertung, die Entwertung, der Mangel sind kein Thema. Etwas Geflicktes bleibt eben nur geflickt und hat nie wieder den Wert wie das Original … diese Meinung, diese Gedanken kommen nicht auf. In Japan gibt es ein Kunsthandwerk, welches sich damit beschäftigt, aus Bruch einen Schatz zu machen. Dabei wird auch nicht versucht, die Bruchstücke so unauffällig wie nur möglich zu kleben, sondern ganz im Gegenteil, die gekitteten Risse werden zum Highlight, also besonders hervorgehoben, aufgewertet.
Vielleicht für uns nicht nur ein Umdenken in puncto zerbrochener Lieblingsstücke aus Keramik oder Porzellan, sondern auch ein Umdenken in Sachen Freundschaften, Beziehungen. Der Volksmund sagt doch immer: Einmal ein Riss, bleibt ein Riss. Ein Scherbenhaufen. Eben nur geflickt. Kann nie wieder ‚wie neu‘ sein. Ist nie wieder ‚ganz‘. Instabil. Nicht mehr ‚funktionsfähig‘.
Während des TERRA X-Beitrages dachte ich spontan: Wenn ich das jetzt mal auf Beziehungen übertrage, sollten wir die Risse, die Narben offen tragen und zeigen, dass der Zusammenhalt, die Einheit, die Liebe gesiegt haben und die Risse zur neuen Form der Beziehung gehören. – Zu einer ganz neuen Qualität der Beziehung.
Für mich ist Kintsugi Motivation, die Lieblingstasse, die keinen Henkel mehr hat oder die Glasschale (von Oma) für Plätzchen, die eine Katsche hat, gerade wieder ‚in die Öffentlichkeit‘ zu bringen. Egal, wer zu Besuch kommt.
Je älter wir werden, desto mehr Risse, Bruchstellen, Katschen, Makel haben wir doch auch. Und wir bewegen uns ja trotzdem noch frei. Hoffentlich …. .
Risse im Laufe einer Beziehung deuten also nicht unbedingt auf ‚Kompromiss‘ hin, sondern vielleicht auf etwas ganz Wunderbares, schöner und besser als zuvor.
Also, Freiheit für Risse, Katschen & Co.! Und WERTSCHÄTZUNG für Risse & Co.!
Die Schönheit von Rissen sehen!
Vorweihnachtliche Herzensgrüße.
Eure Ute